Niemand wird mit einem geringen Selbstwertgefühl geboren, genau wie niemand auf die Welt kommt und vom ersten Augenblick eine Selbstüberschätzung oder Arroganz an den Tag legt. Das Selbstwertgefühl ist ein Resultat der Erziehung und der Erfahrungen, die
Kinder lernen bereits sehr früh, dass Leistung belohnt wird. Das wird ihnen vornehmlich durch die Eltern, andere Familienangehörige und Lehrer beigebracht. Genau hier liegt die erste Gefahr, einem Menschen ein geringes Selbstwertgefühl zu vermitteln. Wird eine Klassenarbeit in den Sand gesetzt, beim Fußball der Elfmeter verschossen, oder die Eltern schimpfen, weil der Müll nicht herausgebracht wurde oder das Zimmer unaufgeräumt ist, dann ist dies ein Versagen – das Nichterfüllung von gesetzten Ansprüchen. In der Folge werden diese Fehlleistungen direkt auf sich selbst bezogen und auf den eigenen Wert als Mensch, als Kind, als Schüler, als Sportler.
Verstärkt wird dies, haben beispielsweise die Eltern mit Liebesentzug gedroht. „Wenn du für die Klassenarbeit nicht mindestens ein Sehr gut bekommst, fahren wir am Wochenende nicht in den Zoo.“ oder „Wenn du schlecht Noten bekommst, brauchst du nicht mehr nach Hause kommen.“ Die Drohung allein, Liebe und Fürsorge zu entziehen, löst beim Kind den Weg zu einem geringen Selbstwertgefühl aus.
Allerdings ist es notwendig, dass derartige Situationen wiederholt auftreten, damit der selbst festgelegte eigene Wert dauerhaft sinkt. Fehlschläge erlebt jeder in seinem Leben. Wer ein gesundes Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen besitzt, der lässt sich durch einen Fehlschlag nicht entmutigen. Bei nächster Gelegenheit wird wieder versucht, die gleiche oder eine ähnliche Anforderung zu meistern, diesmal nur mit mehr Energie, gestärktem Willen und mehr Cleverness. Ist bei einem Fehlschlag das Selbstwertgefühl aber bereits auf dem Boden, folgen Resignation, Selbstvorwürfe und im Extremfall Selbsthass sowie das Aufgeben der eigenen Person. In diesem Zustand sind Depressionen Tür und Tor geöffnet, genau wie der Weg in den Suizid, den Selbstmord.
Menschen mit niedrigem Selbstwertgefühl leiden unter einer verzerrten Sicht auf sich, ihre Talente, Fähigkeiten und ihr Können. Zudem können Sie Realitäten nicht mehr detailliert einschätzen, denn entweder ist eine Situation erfolgreich oder ein Misserfolg. Der Begriff Teilerfolg fehlt in ihrem Wortschatz vollkommen. Entweder Schwarz oder Weiß – Graustufen existieren nicht. Überdies muss alles sofort passieren, denn sie lassen sich keine Zeit, beispielsweise neue Fähigkeiten zu erlernen oder vorhandene zu vervollkommnen – was zwangsläufig zum nächsten Fehlschlag führt. Geduld ist eine Tugend, die Menschen mit geringem Selbstwertgefühl abhandengekommen ist.
Wir bewerten nahezu alles und jeden. Im Feststellen von Leistungen und Parametern ist unsere Gesellschaft nahezu unschlagbar. Was zählt sind exzellente Noten in der Schule, Abschlüsse Summa cum Laude an der Universität, Produktivität am Arbeitsplatz und das Geld auf dem Bankkonto, denn dies sind die wichtigsten gesellschaftlichen Maßstäbe.
Ein Spiegelbild davon sind Sportler. Selbst wenn es sich um Profis handelt – Sport soll eigentlich Spaß machen. Wer sich ein Bundesligaspiel ansieht, der wird in den 90 Minuten Spielzeit mit einer Vielzahl von Statistiken gefüttert. Der Stürmer schießt pro Spiel 1,2 Tore und liefert 0,6 Torvorlagen, wobei er 10,8 Kilometer zurücklegt und er braucht 5 Schüsse aufs Tor, um einen Ball darin zu versenken, jeweils im Durchschnitt wohlgemerkt. Wo bei derart viel Mathematik und Leistungsmessung der eigentlich vorhandene Spaß abbleibt, scheint niemanden zu interessieren.
Und in der Arbeitswelt gibt es Unternehmen, die sich ausschließlich mit der Optimierung von Arbeitsprozessen und der Verbesserung der Wirtschaftlichkeit anderer Betriebe beschäftigen. Dort wird mit der Stoppuhr akribisch genau festgehalten, wie lange der Mitarbeiter XY auf der Toilette zugebracht hat.
Dass bei derart viel Leistungsdruck und Leistungsmessungen manche Menschen nahezu ständig Misserfolge oder Fehlschläge erleben, sollte dann nicht mehr verwundern. In der Folge vermehrt sich die Zahl der Personen, die mit gesenktem Kopf und ohne Selbstwertgefühl durchs Leben laufen.
Ein kaum vorhandenes Selbstbewusstsein und ein Selbstwertgefühl auf niedrigster Ebene müssen kein Dauerzustand bleiben, denn dieser Zustand lässt sich gut beeinflussen. In der Tat gibt es zahllose Möglichkeiten, den eigenen Selbstwert zu steigern.
Das kann mit kleinen Schritten beginnen, vielleicht mit einem Tanzkurs, der erfolgreich absolviert wird. Oder mit einem Kurs im Flirten, dem Sprung aus großer Höhe an einem Bunge-Seil, dem Fliegen über Baumwipfel an einer Zip-Line oder der Teilnahme an einem Grundkurs für Rennfahrer – rein aus Spaß und um das eigene Selbstwertgefühl zu steigern. Meist brauchen Menschen mit geringem Selbstwertgefühl aber Hilfe, um diesen Schritt zu wagen, um überhaupt einen solchen Kurs zu belegen.
Eine weitere gute Möglichkeit ist die Familienarbeit. Bei der Aufstellungsarbeit wird der Rang der betroffenen Personen innerhalb seiner Familie ermittelt, so wie er seine eigene Position nach eigener Einschätzung sieht. Danach wird sein tatsächlicher Rang festgestellt, der in der Regel deutlich von seiner Selbsteinschätzung abweicht. Mit dem Wissen und den Erkenntnissen aus der Familienarbeit fällt es den Personen erheblich leichter, Folgeschritte einzuleiten und stufenweise das Selbstwertgefühl zu verbessern, das eigene Selbstbewusstsein anzuheben.
Familienaufstellungen sind auch in Einzelsitzungen möglich. Gerade für sehr introvertierte Menschen, denen es schwer fällt, sich in der Gruppe zu öffnen, kann dieses Verfahren die richtige Wahl sein. Am Anfang steht ein Anamnese-Gespräch, bei dem so viel Wissen wie möglich über die Familiengeschichte gesammelt wird. In den einzelnen Sitzungen gerät der Klient mit Hilfe des Atems in einen tiefenentspannten Zustand, der es ihm ermöglicht, unbewusste Konflikte und familiäre Verstrickungen ins Bewusstsein zu holen, sie zu bearbeiten und zu befrieden.
Genau dies ist ungemein wichtig, denn ein dauerhaft niedriges Selbstwertgefühl führt immer in depressive Phasen und kann mit einer massiven Depression oder dem Selbstmord enden. Die erschreckend hohe Zahl von über 100.000 Selbstmordversuchen jährlich, von denen knapp 10.000 tatsächlich mit dem Tod enden, spricht Bände. Wer ein gesundes Selbstbewusstsein besitzt und ein angemessen hohes Selbstwertgefühl, der kommt nur in Extremfällen wie einer tödlichen Erkrankung in die Situation, dem eigenen Leben ein Ende setzen zu wollen.