Ein Erbe muss nicht ausschließlich aus materiellen Dingen bestehen. Mitunter erhalten Menschen ungewollt einen Nachlass, den sie über einen langen Zeitraum nicht einmal wahrnehmen, der aber ihr Leben entscheidend beeinflusst. Erst bei einer Familienaufstellung, einer Persönlichkeitsanalyse oder durch Zufall wird entdeckt, dass Teile der Seele der eigenen Vorfahren an einen selbst weitergegeben wurden – wissenschaftlich erwiesen.
Diese belastende Hinterlassenschaft kann nicht wie ein materielles Erbe ausgeschlagen werden. Und es ist in der Tat nicht ganz einfach, diesen belastenden Nachlass wieder loszuwerden.
Vorwiegend betroffen sind davon die sogenannten Kriegsenkel; eine Generation, von denen viele ohne Liebe, dafür mit materiellen Regeln und pauschalen Doktrinen aufgewachsen sind.
Aber auch aktuelle Situationen können sich durch Vererbung, respektive durch die Weitergabe von Stresssyndromen auf mehrere Generationen auswirken – von deutschen Soldaten im Afghanistan Krieg über das Fiasko bei der Love Parade in Duisburg 2010 bis zum Terroranschlag mit einem Lkw auf den Weihnachtsmarkt in Berlin 2016, und wahrscheinlich auch schockierende Erfahrungen, die während der Corona Pandemie 2020 gemacht wurden.
Als Kriegsenkel werden all die rund 20 Millionen Deutschen bezeichnet, die etwa in der Zeit von 1955 bis 1975 geboren wurden. Aber allein das Geburtsdatum reicht nicht aus, um automatisch zum belasteten Kriegsenkel zu werden. Es kommen eine Reihe Faktoren hinzu, die speziell Menschen aus dieser Generation betreffen können. Und der Anteil der Betroffenen aus dieser Gruppe ist erschreckend hoch, denn er liegt bei mindesten 25 Prozent, wahrscheinlich aber deutlich darüber. Dabei liegen keine genauen Zahlen vor, denn oft wissen diese Kriegsenkel nicht einmal, dass sie ein schweres Erbe als Bürde durch ihr Leben schleppen müssen.
Die meisten Betroffenen berichten über eine gefühlskalte Kindheit, in der Umarmungen durch die Eltern und Zärtlichkeiten durch Streicheln oder verbal tabu waren. Die meisten haben von ihren Eltern nie zu hören bekommen „Ich liebe dich!“
Dafür lebten sie in materiellem Wohlstand, mit eigenem Fahrrad, Taschengeld, wöchentlichem Besuch im Kino und dem gemeinsamen Familienurlaub im italienischen Rimini oder an der spanischen Costa del Sol.
Fast alle Kriegsenkel mit einer derartigen Kindheit kennen die meisten der nachfolgenden Sprüche aus den Mündern ihrer Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten:
Wie Kriegsenkel als Jugendliche und Erwachsene reagieren
Es ist augenfällig, dass in der betroffenen Generation einige außergewöhnliche Verhaltensweisen und Erkrankungen gehäuft vorkommen.
Ein krasses aber gutes und prominentes Beispiel für diese Generation ist die 1963 geborene Berlinerin Christiane Felscherinow. Deren Biografie „Christiane F. – wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ war 95 Wochen lang auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste und wurde das am meisten verkaufte Sachbuch der Nachkriegsgeschichte. Felscherinow schildert mit einer geradezu unterkühlten Distanz ihr Elternhaus und ihre Karriere vom Schulkind zur Drogenkonsumentin, zu Heroinabhängigen und schließlich zur Prostituierten – im Alter von 13 Jahren.
Es war notwendig, dass sich Wissenschaftler aus verschiedensten Spezialgebieten zusammensetzten, um dem Phänomen des Kriegsenkel-Syndroms auf die Spur zu kommen. Soziologen, Psychologen, Genetiker, Verhaltensforscher und Mediziner arbeiten dieses Problem auf und sind inzwischen zu teils verwirrenden aber beeindruckenden Erkenntnissen gelangt.
Wichtig zu wissen ist hier, dass
Festgestellt wurde bei Kriegsenkeln, dass:
Ist eine Frau mit einem Mädchen schwanger, werden bereits im dritten Monat im Fötus alle Eizellen angelegt, aus denen 20 oder 30 Jahre später die nächste Generation entsteht. Wurde diese werdende Mutter vor oder während der Schwangerschaft vergewaltigt oder hatte in diesem Zeitraum andere traumatische Kriegserlebnisse zu verkraften, kann dies zu einer Veränderung des Erbgutes beim Fötus und der Folgegeneration führen, womit drei Generationen betroffen sind.
Wie gravierend derartige Erlebnisse sind, zeigte die Untersuchung von Sexualstraftätern. Von diesen waren mehr als 90 Prozent während ihrer Kindheit selbst von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigungen betroffen. Dies bedeutet nicht, dass jedes Opfer eines sexuellen Missbrauchs ein potenzieller Sexualstraftäter ist. Es bedeutet aber sehr wohl, dass fast alle Sexualstraftäter auch ehemalige Opfer sind.
Es gibt inzwischen Selbsthilfegruppen für Kriegsenkel, in denen Betroffene ihre Erfahrungen austauschen, auch die, die mit Therapien gemacht wurden.
Um festzustellen, ob man selbst ein ungewolltes psychologisches Erbe mit sich herumschleppt, sind verschiedene Möglichkeiten vorhanden. Eine davon ist die Familienaufstellung, bei der durch neutrale Personen nur die Position, nicht aber die Rolle bestimmter Familienangehöriger eingenommen wird. Zusammen mit dem Betroffenen wird das so entstandene Netzwerk analysiert. Entscheidend dabei sind die Entfernung der Personen zueinander, genau wie die Blickrichtung oder deren Haltung. Die Familienaufstellung ist also keine Gruppenanalyse mit Rollenspiel, sondern zeigt auf, wo welche Bindungen bestehen und wie stark diese sind.
Familienaufstellungen sind auch in Einzelsitzungen möglich. Gerade für sehr introvertierte Menschen, denen es schwer fällt, sich in der Gruppe zu öffnen, kann dieses Verfahren die richtige Wahl sein. Am Anfang steht ein Anamnese-Gespräch, bei dem so viel Wissen wie möglich über die Familiengeschichte gesammelt wird. In den einzelnen Sitzungen gerät der Klient mit Hilfe des Atems in einen tiefenentspannten Zustand, der es ihm ermöglicht, unbewusste Konflikte und familiäre Verstrickungen ins Bewusstsein zu holen, sie zu bearbeiten und zu befrieden.
Insgesamt ist festzustellen, dass traumatische Erlebnisse jeder Art unbedingt von den betroffenen Personen seelisch verarbeitet werden müssen. Können diese dies nicht allein leisten, ist unbedingt fachliche Hilfe notwendig. Dabei spielt es schlussendlich keine Rolle mehr, ob die psychologischen Belastung von den Kriegserlebnissen vorheriger Generationen stammen oder aktuelle Ereignisse das eigene Selbst erschüttert haben. Wer beispielsweise als deutscher Soldat im Afghanistan Krieg gedient oder das Attentat auf den Weihnachtsmarkt in Berlin erlebt hat und anschließend unter einem Posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS) leidet, der sollte unbedingt ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Nicht nur um die eigene psychische Gesundheit wiederherzustellen, sondern auch, um die eigenen Nachkommen vor Ängsten, mangelndem Selbstbewusstsein, verschiedensten psychischen Störungen sowie ernsthaften Erkrankungen zu schützen.